Wolfgang Schäuble: Bodenständiger Intellektueller von weitem Horizont
Persönliche Würdigung beim Gedenkgottesdienst für den verstorbenen CDU-Politiker am 22. Januar 2024 im Berliner Dom.
In den achtziger Jahren, noch in Bonn, bin ich dem nahezu gleichaltrigen Namensvetter Wolfgang Schäuble das erste Mal begegnet. Das war vor dem jähen Attentat, das einen tiefen Einschnitt in seinem Leben darstellte. Der Gewalt eines verwirrten Menschen erkannte er die Herrschaft über sein Leben nicht zu. Was er sich damit vornahm, war ohne jeden Zweifel ein schwerer Weg. Eben dadurch wurde er vielen zum Vorbild.
Über die erste frühe Begegnung oder über unsere gemeinsame Verwurzelung in Südbaden haben wir später in Berlin nie ausführlicher geredet. Dazu waren die Themen, die uns zusammenführten, zu dringlich. Doch es gab kein Gespräch, das sich nur in aktuell anstehenden Fragen erschöpfte. Zu den bewundernswerten Seiten des Verstorbenen gehörte, dass er sich bei aller Präsenz und Präzision in den politischen Aufgaben des Alltags nie die Möglichkeit rauben ließ, am kulturellen und geistigen Leben teilzunehmen. Bei aller Bodenständigkeit war er ein Intellektueller von weitem Horizont.
Nicht nur seine pragmatische Nüchternheit, sondern ebenso sein Sinn für grundsätzliche Weichenstellungen prägt seine politische Bedeutung. In herausragender Weise gilt das für die Wiedervereinigung Deutschlands und die Entscheidung für Berlin als Bundeshauptstadt. Das waren Situationen, in denen sich Bürgerinnen und Bürger an seiner Courage begeistern konnten.
Gründlicher als andere erkannte er die Dringlichkeit der Aufgabe, sich den Herausforderungen durch Zuwanderung und Flucht zu stellen. Seine Amtszeit als Innenminister war dadurch geprägt. Wie wichtig die Aufgabe war, die er mit der Einberufung der Islamkonferenz im Jahr 2006 in Angriff nahm, kann man an den seitdem erreichten Fortschritten ebenso erkennen wie an den noch immer offenen Fragen. Nüchterne Einsicht und visionäre Kraft verbanden sich bei diesem Thema. Ausdrücklich forderte er dazu auf, dass alle Bürgerinnen und Bürger sich zu den Grundlagen eines friedlichen und rechtsförmigen Miteinanders bekennen. Mit Nachdruck unterstrich er, dass die Verfassungsordnung unantastbar ist.
Sorgfältig achtete er darauf, dass diese Initiative nicht zu Irritationen bei den christlichen Kirchen führte. Klar unterschied er die Aufgaben des Staates und der Kirchen. Der Staat hat dafür zu sorgen, dass Menschen, die in unserem Land wohnen, dessen Verfassung und Rechtsordnung annehmen: die Verantwortung der Religionsgemeinschaften besteht darin, in ihrer Verschiedenheit sich um wechselseitiges Verstehen zu bemühen.
Aus einer klaren protestantischen Haltung konnte Wolfgang Schäuble seiner Kirche unverblümt die Meinung sagen. Er fand sich nicht damit ab, dass deutsche Theologen das Interesse an Religiosität in anderen Teilen der Welt zur Kenntnis nahmen, aber für die eigene Gesellschaft nicht gelten lassen wollten. Aber auch in ihr, so hob er hervor, „gibt es noch ein Bedürfnis nach traditionellen Ritualen wie Hochzeit und Taufe. Die existentiellen Fragen von Angst und Hoffnung, nach dem gelingenden Leben, dem Tod und dem, was über ihn hinausweist, haben sich nicht erledigt.“ Dass die Kirche dies selbst nicht genügend zur Kenntnis nahm, betrachtete er als eine spezifisch kirchliche Art von Weltflucht. Und er kritisierte, dass diese Weltflucht im Kontrast steht zu Projekten der Weltverbesserung, die jedoch nur dann überzeugen, wenn die Kirche es sich dabei selbst nicht zu bequem macht. Er hielt manchen Vertretern der Kirche vor, einer klaren Unterscheidung von Gut und Böse allzu gewiss zu sein – bei allzu wenig Sinn für moralische Ambivalenzen. Ausgerechnet die Kirche, so machte er geltend, „verkennt das notwendig Begrenzte, das immer Kompromisshafte allen menschlichen Handelns“.
Doch ebenso deutlich wie diese wohlmeinende Kritik an der eigenen Kirche war das Festhalten an ihrer Botschaft, gerade für Politiker. Ihnen empfahl er die Einsicht in die Grenzen der Macht. Der Bezug auf Gott war für ihn die entscheidende Kraft dafür, diese Grenzen freiwillig zu akzeptieren. Dabei ist der Bezug auf Gott von entschiedener Bedeutung. „Das Wissen von etwas Unverfügbarem – so gibt Wolfgang Schäuble uns allen zu bedenken – ist eine Vorkehrung gegen Übermaß, Allmachtsphantasie und Machtmissbrauch.“
Für sein Leben und darüber hinaus passt das biblische Wort: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“