Martin Luther lehrte, was gleiche Würde aller ist

Martin Luther hat uns gelehrt, dass jeder Mensch im Wirkungsbereich der göttlichen Gnade lebt – unabhängig von allen individuellen Voraussetzungen, von Stand und Herkunft, Überzeugung und Kultur, Sprache und Bildung.

Beitrag von Wolfgang Huber in der Wochenzeitung "Die Zeit" zum 470. Todestag von Martin Luther am 18. Februar 2016:


Freigeist

Wieder geht es jetzt um Toleranz. Doch selbstverständlich ist sie nicht. Was sind ihre Bedingungen? Eine weitreichende Antwort findet sich bei Luther, zu dessen Zeit das Wort "Toleranz" noch keineswegs in aller Munde war. Er spricht von einer "Toleranz Gottes" und meint damit: Gott "erträgt" den Menschen auch dann, wenn der sich in seiner Selbstbezogenheit von ihm abwendet.

Da niemand von dieser "göttlichen Toleranz" ausgeschlossen ist, weist Luther den radikalsten Zugang zur Toleranz, den ich kenne: Jeder Mensch lebt im Wirkungsbereich der göttlichen Gnade – unabhängig von allen individuellen Voraussetzungen, von Stand und Herkunft, Überzeugung und Kultur, Sprache und Bildung. Es kommt also nicht darauf an, was der Einzelne mitbringt, sondern darauf, was niemand ihm rauben kann: seine Würde.

Die in der gleichen Würde aller Menschen begründete Toleranz hat das Handeln von Christen und das Verhalten der Kirchen keineswegs durchgängig bestimmt. Befürworter der Toleranz konnten sich am ehesten auf christliche Reformbewegungen berufen, die Reformation des 16. Jahrhunderts eingeschlossen. Luthers Eintreten für die Freiheit des Gewissens hat in der Entwicklung der neuzeitlichen politischen Kultur deutliche Spuren hinterlassen.

Leider sind Luthers eigene Äußerungen nicht durchweg von Toleranz geprägt; seine späten Äußerungen "über die Juden und ihre Lügen" sind ein bedrückendes Beispiel dafür. Doch der Ansatz der Reformation lässt für Gewissenszwang keinen Raum. Die Kirche wird verpflichtet, für die Wahrheit des Evangeliums "ohne menschliche Gewalt, sondern durch das Wort" einzutreten. Im Blick auf den Staat stellt Luther klar, dass seine Macht an der Gewissensbindung des Einzelnen ihre Grenze hat. Wo der Staat versucht, in Glaubensfragen Zwang auszuüben, sind wir ihm nicht zum Gehorsam verpflichtet. "Hier stehe ich, ich kann nicht anders": Luthers Aussage vor dem Reichstag in Worms kann auch heute Anknüpfungspunkt für eine Kultur der Gewissensfreiheit und der Toleranz sein.

(Die Zeit vom 18. Februar 2016, Seite 52. "Glauben und Zweifeln")