Wie mit den Belastungen von Corona umgehen?

Verantwortung ist ein Schlüsselthema dafür, wie wir jetzt mit dieser großen Krise umgehen, die viele Menschen an den Rand des Leistbaren bringt.

Radio-Interview mit NDR Info, gesendet am 5. April 2020:

Andrea Schwyzer, Moderatorin: Kommende Woche jährt sich der Todestag von Dietrich Bonhoeffer zum 75. Mal. Dazu eine kurze Textpassage aus einer neuen Biografie über den Theologen und Widerstandskämpfer:

Auf seinem Lebensweg wagte Bonhoeffer mutige Schritte und wich vor Enttäuschungen wie vor Gefahren nicht zurück. Das kann auch heute ein Ansporn sein. Als Theologe und denkender Zeuge einer abgründigen Zeit scheute er neue Ansätze und kühne Vorstöße nicht. Das ermutigt dazu, sich auch heute wichtigen Fragen zu stellen und nach eigenen Antworten zu suchen.

Auf Hitlers persönliches Geheiß wurde Dietrich Bonhoeffer am 9. April 1945 im Alter von 39 Jahren ums Leben gebracht. Wen wundert, dass sein Leben und sein Denken fragmentarisch geblieben sind. Doch gerade ein Fragment fordert dazu auf, zu erkunden, wie das Ganze wohl gemeint war. Diese Erkundung hat Altbischof Wolfgang Huber unternommen, ehemaliger Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, und zwar mit einem Porträt über Dietrich Bonhoeffer. Guten Tag, Herr Huber.

Wolfgang Huber: Guten Tag, Frau Schwyzer.

Mut zu Nähe, Verbundenheit und Solidarität

Sie schreiben davon, ich habe es gerade gelesen, sich von Bonhoeffer anspornen zu lassen, ermutigt zu wissen. Wo wünschten Sie sich in der heutigen Zeit mehr Mut?

Huber: Ich wünsche mir heute mehr Mut im unmittelbaren Miteinander der Menschen. Ich glaube, gerade heute, in einer Zeit, in der wir äußerlich auf Distanz zu anderen Menschen gehen, ist es elementar wichtig, innerlich mit ihnen verbunden zu sein und auch immer neue Wege zu suchen und zu finden, wie man ihnen Nähe, Verbundenheit, Solidarität zeigen kann.

Dietrich Bonhoeffer hat das in einer exemplarischen Weise in extremsten Situationen gemacht, als er im Gefängnis unter strengsten Sicherungsvorkehrungen war. Als Gefangener des Nazi-Regimes hat er nicht lockergelassen, bis er Wege gefunden hat, Briefe aus dem Gefängnis herauszuschmuggeln, muss man wirklich sagen, weil er wusste: Gerade jetzt ist es für ihn wichtig, Kontakt mit anderen zu haben; aber auch den anderen, die außerhalb des Gefängnisses sind, seinen Freunden, seiner Familie, Zeichen der Zusammengehörigkeit zu geben.

Das geht ja bis hin in seine allerletzten Lebensmonate und Lebenswochen. Das letzte Zeugnis, das wir von ihm haben, ist dieses großartige Gedicht: Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Diese Haltung wünsche ich mir natürlich sehr. Wenn wir Gemeinsinn heute auch öffentlich demonstrieren, wird uns das auch leichter durch die schwere Krise hindurchbringen, in der wir uns im Augenblick befinden.

Sie schreiben in Ihrem Buch: „Immer deutlicher wurde Bonhoeffers Lebenswerk zu einem der stärksten theologischen Impulse, die aus dem vergangenen Jahrhundert in unsere Gegenwart hinüberwirken.“ Wenn wir jetzt mal von der Krise wegkommen: Wie hat Bonhoeffer Sie denn persönlich beeinflusst?

Das war einer der allerfrühesten theologischen Einflüsse, denen ich begegnet bin. Schon als Schüler habe ich Werke und Schriften von Dietrich Bonhoeffer gelesen. Das hat mir dabei geholfen, die Brücke zu schlagen zwischen einem starken historischen Interesse, das ich als Theologe hatte, und der Entscheidung, das Schwergewicht meines ganzen Lebens der gegenwärtigen Verantwortung des christlichen Glaubens und der Kirche zu widmen. Dafür war Bonhoeffer ein ganz starker Antrieb für mich.

Keine Menschen an den Rand geraten lassen

Es gibt ja solche Sätze, die exemplarisch für Bonhoeffer stehen. Sie zitieren ihn auch. Zum Beispiel: „Nur der Glaubende ist gehorsam und nur der Gehorsame glaubt.“ Was hat es mit diesem Satz beispielsweise auf sich?

Das ist ein Satz, der in die damalige Zeit hinein gesprochen worden ist, wo Bonhoeffer Tendenzen dazu beobachtet hat, dass Leute im Grundsätzlichen Glaubenswahrheiten vertreten, ohne aus ihnen praktische Konsequenzen zu ziehen. Zum Beispiel die Konsequenz, erkennbar auf die Seite der gefährdeten und entrechteten Jüdinnen und Juden zu treten. Das hat Bonhoeffer ja gleich im Jahr 1933 mit voller Klarheit bemerkt und sich sehr damit auseinander gesetzt, sich sehr empört darüber, dass seine eigene Kirche nicht die Klarheit aufgebracht hat, die er für notwendig hielt.

Das Kapitel 9 in Ihrem Buch trägt den Titel: Verantwortungsethik. In unserer aktuellen Lage fällt das Wort Ethik gerade wieder ziemlich oft. Zum Beispiel, welche Corona-Patienten sollen vorrangig behandelt werden, wenn nicht ausreichend medizinisches Material oder zu wenig Personal vorhanden ist? Was bedeutet es auch, sich nicht von schwerstkranken Familienmitgliedern verabschieden zu dürfen? Wie schwer wiegt die wirtschaftliche Krise für Einzelpersonen? Wenn Sie sich diese Fragen noch mal vergegenwärtigen, inwiefern hat Ihr Buch gerade jetzt vielleicht auch an Aktualität gewonnen?

Ich glaube, Verantwortung ist ein Schlüsselthema dafür, wie wir jetzt mit dieser großen Krise umgehen, die ja viele Menschen wirklich an den Rand des Leistbaren bringt. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass diese Verantwortung grundsätzlich allen Menschen, mit denen wir es zu tun haben, in gleicher Weise gilt; dass wir aufpassen müssen, keine Menschen an den Rand geraten zu lassen; dass wir jeden um seiner selbst willen ernst nehmen.

Das spielt tatsächlich im Blick auf die Belastungen, die noch vor unserem Gesundheitssystem liegen, die noch schwerer werden in der kommenden Zeit, als sie jetzt schon sind, eine ganz große Rolle, ob man einen Menschen unter dem Gesichtspunkt betrachtet, welche potenzielle Leistungsfähigkeit er noch für die Gesellschaft hat, oder ob wir den Menschen als solchen sehen und in ihm ein geliebtes Geschöpf Gottes und einen Menschen mit einer eigenen Würde erkennen.

Die Kirchentüren stehen offen - trotz Corona

Wenn Sie von Verantwortung sprechen – Eine große Verantwortung haben ja auch Pastorinnen, Pastoren; Menschen, die die Kirchen öffnen oder eben auch schließen müssen. Wenn wir jetzt ein bisschen vorausblicken auf das Osterfest von nächstem Wochenende, da werden die Kirchen ja geschlossen bleiben. Kritiker wünschen sich für Ostern allerdings eine Ausnahme und fragen: Warum dürfen wir im selben im Bus fahren, aber nicht gemeinsam beten? Wäre da eine Öffnung der Kirchenräume nicht angebracht?

Ich möchte mal aus meiner Sicht ganz klarstellen, und das ist jetzt aus dem Bereich Berlin-Brandenburg heraus gesagt: In unserem Verständnis sind die Kirchen nicht geschlossen. Wir halten die Kirchen offen, damit Menschen wissen: Das ist ein Ort des Gebets, der Verbindung zu Gott, der auch in der jetzigen Situation offen ist.

Was wir nicht haben, sind Gottesdienste, bei denen die Gefahr besteht, dass die Menschen doch näher zusammenrücken, als nach den jetzigen Vorschriften möglich ist. Hier, ein paar Schritte von meinem eigenen Haus, ist Tag für Tag die Kirchentür demonstrativ offen, damit Menschen nicht einmal die Klinke benutzen müssen, um hinein zu gehen. Das ist ein wunderbares Symbol für offene Kirchen gerade in dieser Zeit.

Angebote in Medien und Netz nutzen, um das Osterfest zu feiern

Auf diesem Hintergrund können wir dann, glaube ich auch, nicht nur mit Verdruss damit umgehen, nicht nur hadern damit, dass die wunderbaren Ostergottesdienste nicht so stattfinden, wie wir es gewohnt sind, sondern jetzt darauf achten: Welche Angebote gibt es denn, im Fernsehen, im Rundfunk, im Netz, und in diesem Fall dann sagen: Gott sei dank, dass wir diese neuen Möglichkeiten haben, die Generationen vor uns überhaupt noch nicht hatten. Und jetzt gehen wir mal den Schritt und nutzen das, und helfen älteren Menschen unter Umständen, dass sie auch den Zugang dazu bekommen. Und dann werden Viele große und wichtige religiöse Erlebnisse haben, werden getröstet sein, werden Gebrauch davon machen, dass sie in diese Gottesdienste hinein Gebetsanliegen schicken können.

Wir alle hoffen, dass ein solches Osterfest nie wieder kommt. Aber jetzt sollten wir es intensivst auf diese Weise gestalten und die Möglichkeiten, die es gibt, nutzen.

Das sagt Altbischof Wolfgang Huber. Vielen Dank für diese Eindrücke.

Ich bedanke mich auch sehr, Frau Schwyzer.

Zum Mitschnitt der Sendung Blickpunkt: Diesseits von NDR Info geht es hier